von Iason Saganas (LMU München) & Ludwig Scheibe (TU Berlin), Juli 2024
Die meisten kennen Gezeiten von den Ozeanen der Erde – mit manchmal deutlichen Unterschieden zwischen Ebbe und Flut. Aber Gezeitenkräfte spielen auch in der Planetenwissenschaft eine wichtige Rolle. Gezeitenkräfte können zu einer Änderung in der Umlaufbahn eines Planeten um seinen Stern – oder einen Mond um seinen Planeten – führen (“Migration”), was ein signifikanter Einfluss darauf ist, wie Planetensysteme sich langfristig entwickeln. Für Planeten nah an ihrem Stern – oder, äquivalent, Monde nah an ihrem Planeten – ändern Gezeitenkräfte die Rotation, so dass sie eine permanente Tag- und Nachtseite haben, ein Prozess der Gebundene Rotation genannt wird. Darüber hinaus können Gezeiten, wenn sie stark genug sind, eine zusätzliche Wärmequelle im Inneren der Monde oder Planeten sein, was einen sonst viel zu kalten Himmelskörper potentiell bewohnbar machen kann. Aber was genau sind Gezeitenkräfte genau, und wie verursachen sie diese Effekte? Finden wir es heraus.
Nehmen wir einen Mond an, der um einen Planeten kreist. Auf seiner Umlaufbahn wird der Mond durch die Gravitationskraft bzw. Schwerkraft zum Planeten gezogen. Gleichzeitig zieht aber die Schwerkraft des Mondes auch am Planeten. Da die Stärke der Gravitation von der Entfernung zu ihrer Quelle abhängt, spürt nicht jeder Punkt auf der Oberfläche des Planeten die Anziehung des Mondes in dem selbem Ausmaß. Der Planet hat eine Ausdehnung im Raum, und spürt also die Schwerkraft des Mondes auf einer Seite stärker als auf der anderen.
Genauer gesagt, auf der Seite des Planeten, die dem Mond zugewandt ist, ist die Anziehung stärker als auf der anderen Seite und der Planet wird in Richtung seines Begleiters „gequetscht“. Andersrum ist die Anziehungskraft auf der abgewandten Seite schwächer und die gleiche „Quetschung“ erfolgt in die andere Richtung.
So genannte „Gezeitenwölbungen“ entstehen, der Planet wird leicht in die Länge gezogen und nimmt eine leicht ellipsoide statt einer kugelförmigen Gestalt an. Es sollte dazu gesagt werden, dass auf den Abbildungen in diesem Artikel diese Verformung absichtlich deutlich verstärkt dargestellt ist, damit sie mit bloßem Auge gut sichtbar ist. Auf der Erde sind diese Auswölbungen vor allem im Wasser zu beobachten und verursachen die Flut, aber bis zu einem gewissen Maße wird der ganze Planet auf diese Weise verformt.
Allerdings kreisen Mond und Planet nicht nur um ihr gemeinsames Massezentrum, sondern sie rotieren auch um ihre jeweils eigene Achse. Diese zusätzliche Bewegung, zusammen mit der Tatsache dass die Ausbildung der Gezeitenwölbung nicht unmittelbar erfolgt sondern Zeit braucht, führt dazu, dass die Auswölbung sich nicht direkt am Punkt bildet, der den kürzesten Abstand zum Mond aufweist – direkt „unter“ dem Begleiter, könnte man sagen. Stattdessen ist die Wölbung entweder vorwärts oder rückwärts bezogen auf die Position des Begleiters verschoben, abhängig von den Anfangsbedingungen des Systems. Wir nennen dies Gezeitenvorlauf bzw. -nachlauf.
In dem Beispiel, das hier im Bild gezeigt wird, läuft die Wölbung vor dem Mond. Das passiert, wenn die anfängliche Umlaufperiode des Mondes – also die Zeit die er für einen Umlauf um den Planeten braucht – länger ist als die Rotationsperiode des Planeten um die eigene Achse. Der Mond und die Gezeitenwölbung ziehen einander durch die Schwerkraft an. Dank dieser Anziehung zwingt der Begleiter den rotierenden Planeten dazu, langsamer zu werden, um zu der Wölbung aufzuholen.
Effektiv wird ein kosmischer Schraubenschlüssel an den Planeten angesetzt.
Aufgrund der physikalischen Gesetzmäßigkeit, dass der Drehimpuls eines Systems erhalten bleiben muss, folgt: Wenn der Planet verlangsamt wird, muss sein verlorener Drehimpuls irgendwo hingehen. Tatsächlich erhält der Mond selbst diesen zusätzlichen Drehimpuls und wird auf seinem Umlauf beschleunigt. Daraus wiederum folgt, laut Keplers drittem Gesetz, dass der Mond seinen Abstand zum Planeten vergrößert, sich also langsam entfernt.
Umgekehrt funktioniert das auch: Im gegenteiligen Fall, wenn die Gezeitenwölbung dem Mond nachläuft, läuft der Vorgang in die andere Richtung ab. Der Mond beschleunigt die Rotation des Planeten und wird dadurch wiederum selbst auf seinem Umlauf abgebremst, wodurch er seine Distanz zum Planeten verkleinert.
Das ist der Mechanismus, der zu Gezeitenmigration führt. Genau das geschieht mit dem dem Erde-Mond-System. Durch die Gezeitenkräfte wandert der Mond langsam von uns weg, und zwar um ca. 3,8 cm pro Jahr – das kann mithilfe von Lasern gemessen werden, die von Spiegeln auf der Mondoberfläche, die Astronauten dort aufgebaut haben, reflektiert werden. Dieses Tempo reicht nicht aus, dass sich der Mond aus dem Gravitationsbereich der Erde bewegen kann, bevor die Sonne in ca. 5 Milliarden Jahren zum roten Riesen wird und beide verschluckt.
Wir haben die Prozesse hier anhand eines Planeten und seines Mondes beschrieben, aber dasselbe Prinzip gilt natürlich auch für einen Planeten, der um seinen Stern kreist. In diesem Fall übernimmt der Planet die Rolle des Begleiters und der Stern die des zentralen Körpers. Gezeitenmigration kann also auch in diesem Fall passieren, sodass die Umlaufbahn eines Planeten um einen Stern sich graduell erweitert oder verengt. Dies wurde in einigen Fällen sogar gemessen, indem sehr sorgfältig die Zeiten der Transits von Exoplaneten gemessen wurde. Im Fall des heißen Jupiters WASP-12 b hat man herausgefunden, dass seine Umlaufzeit von 1,1 Tagen sich um ca. 30 Millisekunden pro Jahr verkürzt, da der Planet sich langsam auf seinen Stern zubewegt.